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Ein Antrag auf Ausreise aus der DDR ist keine Flucht

Hildesheim, den 28. September 2023


Der Versuch, die Deutsche Demokratische Republik (DDR) nach einem gescheiterten Fluchtversuch mithilfe eines Ausreiseantrags zu verlassen, stellt nach einer später geglückten Flucht kein einheitliches Fluchtgeschehen dar, welches als Ersatzzeit bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen wäre. Dies hat das Sozialgericht Hildesheim entschieden.

Dem Klageverfahren lag der Fall eines im Jahr 1955 geborenen Mannes zugrunde, der im Juni 1989 versuchte, mit seiner Familie aus der DDR über Ungarn und Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) zu fliehen. Nachdem die Familie beim Grenzübertritt durch die Behörden aufgegriffen wurde, kehrten Sie nach Rücksprache mit der Botschaft der BRD in die DDR zurück. Dort nahm der Kläger bis zur Kündigung zum 31. August 1989 seine Erwerbstätigkeit wieder auf und stellte mithilfe eines ihm von der Botschaft der BRD vermittelten Rechtsanwalts für sich und seine Familie Ausreiseanträge. Nachdem absehbar war, dass die zuständigen Behörden der DDR über diese Anträge negativ entscheiden würden, floh er mit seiner Familie aufgrund der aktuellen Nachrichtenlage am 4. November 1989 über die damalige CSSR in die BRD.

Die beklagte Rentenversicherung berücksichtigte für den Kläger die Zeiten ab dem 4. November 1989 bis zur Aufnahme einer Beschäftigung in der BRD als Ersatzzeit wegen Flucht. Der Kläger beantragte, auch die Zeiten ab Beginn des ersten Fluchtversuchs im Juni 1989 bis zum 4. November 1989 als Ersatzzeit wegen Flucht nach § 250 Abs. 1 Nr. 6 des Sozialgesetzbuchs Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) im Versicherungsverlauf anzuerkennen. Die Rentenversicherung kam diesem Begehren nicht nach, sondern merkte die Zeiten bis zum 1. August 1989 als Beitragszeiten mit Pflichtbeiträgen und die Zeit bis zum 31. August 1989 als Arbeitsausfalltage vor. Der Kläger argumentierte unter anderem, dass er und seine Familie die gesamte Zeit hindurch einen Fluchtwillen gehabt hätten. Die Flucht habe mit Beginn der Flucht über Ungarn im Juni 1989 bis zum Grenzübertritt am 4. November 1989 in die BRD angedauert.

Das Sozialgericht wies die Klage ab. Für die Zeiten bis zum 31. August 1989 scheide die Anerkennung von Ersatzzeiten aus, weil diese nur für Zeiten in Betracht komme, in denen keine Versicherungspflicht bestand. Der Kläger habe ausweislich seines Arbeits- und Sozialversicherungsausweises bis zu diesem Zeitpunkt gearbeitet und Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung der DDR gezahlt. Aber auch für die Folgezeit bis zum 3. November 1989 wären keine Ersatzzeiten wegen Flucht anzuerkennen. Ein durchgehender Wille zur Ausreise reiche für die Anerkennung eines durchgehenden Fluchtgeschehens nicht aus. Die Stellung eines Ausreiseantrags sei keine Flucht, sondern der Versuch, das Land auf legalem Weg zu verlassen. Das Bemühen des Klägers um eine legale Ausreise seiner Familie zeige sich insbesondere durch die aktive Kontaktaufnahme des Klägers durch seinen Rechtsanwalt mit den Behörden der DDR. Erst die am 4. November 1989 begonnene und auch abgeschlossene Flucht über die CSSR stelle eine als Ersatzzeit zur berücksichtigende Flucht dar.

Das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim ist nicht rechtskräftig. Die Berufung des Klägers ist vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (L 9 R 190/23) anhängig.

Sozialgericht Hildesheim, Urteil vom 19. Juli 2023 – S 28 R 134/21

 

Artikel-Informationen

Ansprechpartner/in:
Herr Hermann Meyer-Dulheuer

Sozialgericht Hildesheim
Pressesprecher
Otto-Franzius-Straße 2
31137 Hildesheim
Tel: 05121/9137-5
Fax: 05141/593734400

www.sozialgericht-hildesheim.niedersachsen.de

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